Fleißers "Ingolstadt" bei den Salzburger Festspielen

Fleißers "Ingolstadt" bei den Salzburger Festspielen

von Isabella Kreim

Dass die Theaterliteratur von Marieluise Fleißer fast 100 Jahre nach den Uraufführungen ihrer beiden Ingolstadt-Stücke „Pioniere“ und „Fegefeuer“ zu einer Top-Produktion der Salzburger Festspiele geworden ist, in Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater, wo „Ingolstadt“ ab September auf dem Spielplan stehen wird, zeigt, dass diese Dramatikerin mit ihren Themen und ihrer eigenwilligen Sprache im Kanon der deutschsprachigen Dramatik Bestand hat.

Der international erfolgreiche belgische Regisseur und zweifache Tony Award-Gewinner Ivo van Hove hat die beiden Ingolstadt-Stücke „Fegefeuer“ und „Pioniere“ ineinander verzahnt und mit dem schlichten Titel „Ingolstadt“ auf der Pernerinsel in Hallein als Produktion der Salzburger Festspiele auf die Bühne gebracht.
Das Ergebnis ist eindrucksvoll, wurde auch durchaus begeistert beklatscht, ist aber nicht ganz ohne unnötigen Ballast. Denn die Aufführung verzettelt sich in einer Überfülle an Variationen ähnlicher Situationen, die sich aus dem doppelten Szenenmaterial der beiden Stücke ergeben hat.
Es fehlt an Stringenz und einem dramaturgischen Flow, sodass die Vielfalt der Szenen, in denen junge Menschen sich gegenseitig psychisch und physisch quälen und demütigen, allmählich auch für das Publikum immer quälender wird.

Doch die Verzahnung der beiden Stücke macht durchaus Sinn. Denn Fleißer erzählt in beiden Stücken von Unterdrückung und Gewalt unter jungen Menschen, ausgelöst von kirchlichen Moralvorstellungen, patriarchalen Strukturen, ökonomischen Abhängigkeiten und dem Wunsch nach Ausbruch aus der Enge der Reglementierungen - in den Familien, im Gruppendruck auf der Straße, beim Militär. Und die Gewalthierarchie bei den Soldaten wirkt geradezu wie ein Aha-Effekt für das Rudelgesetz unter den Gymnasiasten und die Verhaltensmuster, warum Männer an Frauen ihren eigenen Frust auslassen und Überlegenheit demonstrieren.

Ingolstadt als Mythos Provinzstadt: Ivo van Hove hat sich von seinem Bühnenbildner und Lichtdesigner Jan Versweyveld eine faszinierende, düstere Wasserlandschaft bauen lassen. Die Darsteller*innen waten im Wasser, wenige Gitterroste oder Stege bilden Inseln, Bodennebel wallt, eiserne Masten mit Lautsprechern ragen apokalyptisch aus dem Wasser. Lichterketten für die Wirtshausszenen und eine spiegelnde Rückwand geben dem Einheitsschauplatz auch etwas zirkushaft Irreales. Und das Wasser hat Untiefen, in denen Waterboarding, Roelles Steinigung, Olgas Selbstmordversuch in der Donau oder Bertas Vergewaltigung zu einem dramatischen Überlebenskampf werden.

Die jungen Darsteller*Innen vom Wiener Burgtheater stürzen sich mit großer Intensität in die Extremsituationen ihrer Figuren. Vor allem die jungen Frauen, Olga, Berta, Alma und Clementine sind keine verzagten, eingeschüchterten Provinzhascherl. 
Beklemmend gelingt die geballte Männlichkeit aus Soldaten und Zivilisten in der Wirtshausszene. Da wird exzessiv gesoffen und furchterregend gesungen, sodass sich der aufkommende Faschismus Ende der 1920er Jahre und die Ballermann-Entfesselung von heute bedrohlich überlagern.

Man wünscht den beiden Dramaturgen vor den Aufführungen am Wiener Burgtheater im Herbst noch einen nicht zu zögerlichen Rotstift-Einsatz. Denn wir haben verstanden, wie eindringlich die Fleißer darstellen konnte: „Die Hölle, das sind die anderen“, wie es Jean-Paul Sartre Jahrzehnte nach Fleißers beiden genialen Erstlingsstücken formuliert hat.

 Foto: Matthias Horn, Salzburger Festspiele

 

Kulturkanal am 05.08.2022
    
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